Stigmatisierung und Toleranz – Teil 1 – Das Ding mit der Krankheit

Vor einem Jahr haben wir unseren Verein „Arbeitsgruppe Depression e.V.“ geründet. Bei einem Kleinkind kommen schnell solche Fragen wie: Kann er denn schon laufen oder spricht er schon?Beide Fragen können wir mit einem ganz klaren JA beantworten. Und wie! Selbst in unseren eigenen Erwartungen haben wir einen solchen Raketenstart nicht erwartet. Zumal auch noch die Pandemie im Spiel war. Die erste Zeit haben wir benötigt, um unsere Idee der Genesungsbegleitung in Gotha publik zu machen. Es ging darum den vorhandenen Strukturen in der Betreuung und Begleitung von psychischen Erkrankungen Betroffenen aufzuzeigen, dass es da eine neue (zu mindestens in Thüringen) Art der Begleitung und Betreuung gibt. Die Genesungsbegleitung!

Geiles Teil ist das schon, das Ding mit der Genesungsbegleitung. Jedenfalls für uns als Betroffene. Das stand und steht fest. Zwei Probleme standen und stehen immer noch im Raum. Wie würde die Profi-Seite damit umgehen und wie die Bevölkerung. Genau der Teil der Bevölkerung, der leider immer noch zum größten Teil Angst vor psychischen Erkrankungen, aber noch viel schlimmer vor den Betroffenen zu haben scheint. STIGMATISIERUNG ist das was dahinter steckt. So die gesellschafts-politische Einordnung dieser Angst. Denn mehr ist es eigentlich nicht. Die Angst vor dem Ungewissen. Die Angst nicht zu wissen, wie man mit Betroffenen umgeht. Schauen wir einmal ganz nüchtern auf die Definition des Wortes Stigmatisierung: Die Stigmatisierung bezeichnet einen Prozess, in dessen Verlauf innerhalb einer Gesellschaft bestimmte äußere Merkmale von Personen und Gruppen, zum Beispiel eine sichtbare Behinderung (behindert), mit negativen Bewertungen belegt und die Betroffenen, als die „Behinderten“ in eine Randgruppenposition gedrängt werden. Stigmatisierte Personen werden somit bei gesellschaftlichen Interaktionen primär über dieses negativ konnotierte Merkmal wahrgenommen; andere Merkmale, zum Beispiel der Charakter oder Bildungsstand können dieses Stigma nicht kompensieren.

Ein stigmatisierter Mensch ist diesem Prozess meistens hilflos ausgeliefert und wird die ihm zugeschriebene negative Bewertung im Normalfall allmählich verinnerlichen. Dies hat zur Folge, dass der Betroffene sich selbst als defizitär erlebt und sich zum Beispiel bemüht, das negativ bewertete Merkmal geheimzuhalten. Immer kleiner werdende Hörgeräte unterstützen zum Beispiel das Bemühen vieler stark schwerhöriger Menschen, trotz Hörbehinderung möglichst unauffällig zu bleiben.Gleichzeitig ist Stigmatisierung aber auch relativ: Was in einer Gesellschaft oder in einer Gruppe als positives Merkmal oder Normalität gesehen wird, kann woanders oder zu einem anderen Zeitpunkt zu Stigmatisierung führen. Dies lässt sich gut am Beispiel der Gebärdensprachkultur verdeutlichen: Hier ist es normal, in Gebärdensprache zu kommunizieren, eine differenzierte Gebärdensprache wird sehr positiv bewertet. Die gleiche Gebärdensprache ist in der hörenden Gesellschaft aber schnell eine Auffälligkeit, die zur Stigmatisierung führt („Der Mann kann ja nicht mal richtig sprechen.“). (Quelle: Wikipedia)

Stigmatisierung – ist Ihnen das auch schon einmal passiert? Sie haben mit Sicherheit nicht abfällig gedacht oder geredet. Erschienen Ihnen diese Menschen als bedauernswert? Klar, sie tun Ihnen sogar leid! Aber was genau tut Ihnen leid? Das diese Betroffenen sich nicht so bewegen können, nicht so am Leben teilhaben können wie Sie? Können sie doch, aber eben nur anders. Auf ihre Weise. Das sind die Betroffenen mit Behinderungen, die sie sehen können. Mit körperlichen Einschränkungen. Viele Menschen zeigen Betroffenheit oder Mitleid. Mitleid heißt mitleiden. Mitleid brauchen Betroffene nicht! Mitgefühl ist wichtig, Verständnis ist wertvoll. Wie sieht es jetzt aber mit Betroffenen aus, die keine sichtbare Krankheit haben? Weil man die Krankheit nicht sieht, ist es schwerer sie als Krankheit zu akzeptieren? Warum? Unsichtbar heißt nicht erklärbar, nicht erfassbar, nicht zu verstehen?

Da beginnt eigentlich der Prozess, der viele Betroffene in eine Isolation treibt. Kennen Sie Situationen, in denen sie sich nicht verstanden oder missverstanden fühlen? Nicht angenehm, oder? Wie ist es wohl mit Betroffenen die psychisch erkrankt sind, deren Leben von der Depression beherrscht werden? Sie glauben, dass diese Menschen meist selbst schuld sind. Schuld ist eigentlich ein Wort, dass ich aus meinem Wortschatz gestrichen habe. Schuld entsteht doch eigentlich, wenn jemand etwas Negatives mit einem besonderen Vorsatz macht. Glauben Sie wirklich, dass Betroffene mit Absicht krank werden? Wir werden krank, weil wir keinen Ausweg aus bestimmten Situationen finden. Glauben Sie wirklich, dass wir das mit Absicht machen? Wir werden aber auch krank, weil die Stigmatisierung in der Gesellschaft uns keinen Weg ebnet, offen mit der Krankheit umzugehen. Ob in den Medien oder Firma, Freunden, ja sogar in der eigenen Familie wurden und werden Betroffene wie Menschen behandelt, die Unheil bringen, die einfach nicht dazu gehören. Sie fragen sich dann ernsthaft, warum wir uns zurückziehen? Warum wir Angst haben uns als Hilfsbedürftige zu outen?

Fragen Sie sich bitte, ob es in ihrem Umfeld Menschen gibt, dessen Verhalten Sie nicht verstehen. Was haben Sie bisher getan, um auf diese Menschen zuzugehen und Ihnen Hilfe anzubieten? Keine Angst ich möchte Ihnen kein schlechtes Gewissen einreden. Das steht mir nicht zu. Aber, ich kann aus meinem eigenen Leben sprechen. NIEMAND – wirklich niemand hat mir zu gehört! Ich wurde zum Spinner, Lügner und Versager abgestempelt. Einer der viel verspricht, aber nichts hält. Ja sogar meine eigene Familie hat mir nicht zu gehört, ja verurteilen und hassen mich noch heute! Jedoch hat nicht einer aus meiner Familie gefragt, „Papa, was ist und war eigentlich los? Wir wollen verstehen, was da war.“ Meine Ex-Frau sagt heute: „Ja irgendwann bestraft dich das Leben. Selbst schuld!“ Tut weh!!! Ich möchte sie nicht verurteilen dafür, dass sie mir nicht zugehört haben. Sie haben es ja nicht anders gewusst.

Ich hinterfrage jedoch, warum sich eigentlich niemand dafür interessiert hat, wie es mir damit geht. Mit dieser Krankheit. „Er hatte eine Familie, Kinder und Arbeit. Es war doch alles gut. Wir können das nicht verstehen. Egoist, hat nur an sich gedacht und alle anderen mussten darunter leiden!“ Ich kann sie teilweise verstehen, sie hatten ja keine Ahnung, dass ich Krank bin und was diese Krankheit mit mir macht! Ich hatte doch auch keine Ahnung, wusste es doch selbst nicht. Wenn Sie glauben, dass Betroffene mit voller Absicht so sind, unterliegen Sie einem großen Irrtum. Ich habe doch selbst nicht verstanden, was da mit mir passiert! Ich habe mir dann endlich Hilfe geholt. War mehrfach in der Tagesklinik, bei Psychologen und bin einer Genesungsbegleiterin in der Tagesklinik in Gotha begegnet. Mit dieser Hilfe konnte ich das Ding mit der Krankheit verstehen. Vor allen Dingen habe ich akzeptiert das ich krank bin und Hilfe benötige. Hilfe, die ich mir auch von meiner Familie meinem Umfeld gewünscht hätte.Das Ding mit der Krankheit, die man nicht sehen kann, ist gar nicht so leicht zu verstehen. Doch wie will man verstehen was man nicht sieht? Zuhören und tolerieren, dass es Menschen gibt, die unsere Hilfe brauchen.

Eine eigene Meinung bilden, ohne sich durch Medien oder alteingefahrene Meinungen steuern zu lassen. Wir als Betroffene brauchen die Toleranz unserer Krankheit, dass Recht darauf, auch als Betroffener zur Gesellschaft zu gehören – ohne Stigmatisierung, sondern mit Toleranz und Akzeptanz.